Das Landesarbeitsgericht (LAG) München hat Ende Juni in einem viel beachteten Urteil einem ehemaligen Kellner, Jurastudent und heutigen Rechtsreferendar rund 100 000 Euro zugesprochen – samt sechs Monaten bezahltem Urlaub und einer schriftlichen Entschuldigung seines früheren Arbeitgebers.
Schon die schiere Höhe der Summe wäre bemerkenswert; dass sie aus einem Minijob-Verhältnis erwächst, verleiht dem Fall Sprengkraft für die gesamte Branche.
Vom Nebenjob zum Präzedenzfall
Auslöser war der Versuch des damals 24-Jährigen, in dem Münchner Lokal einen Betriebsrat zu gründen. Kurz nach den ersten Vorbereitungshandlungen wurde er monatelang nicht mehr eingeplant, später in die Küche versetzt und schließlich fristlos entlassen.
Parallel meldete der Betrieb Insolvenz an; das Geschäft wanderte auf eine neue Gesellschaft über. All das dokumentierte ein dramatisches Ungleichgewicht der Kräfte, das sich vor Gericht ins Gegenteil verkehrte.
Chronologie eines eskalierenden Konflikts
Die erste Instanz – das Arbeitsgericht München – kassierte zwar die Kündigung, wies jedoch sämtliche Zahlungsanträge zurück. Der Student legte Berufung ein, diesmal anwaltlich vertreten, und dehnte seine Klage auf 36 Anträge aus.
Gemeinsam mit seinem Anwalt nahm er den Geschäftsführer der insolventen Gesellschaft persönlich in Anspruch und bezog die Nachfolge-GmbH wegen des Betriebsübergangs nach § 613a BGB ein.
Das Ergebnis: ein 47-seitiges Teilurteil im April 2025 und ein Schlussurteil im Juni 2025, die den Arbeitgebern eine geballte Ladung Haftung aufbürden.
Betriebsratsgründung als Auslöser – und als Schutzschild
Kern des Urteils ist die Feststellung, dass der Arbeitgeber den Studenten wegen seiner Betriebsratsinitiative systematisch benachteiligt hat. Die Versetzung in die Küche und die spätere Kündigung seien lediglich »vorgeschoben« gewesen.
Damit greift das Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) ebenso wie der Schutz vor Behinderung von Betriebsratsarbeit (§ 78 BetrVG). Das Gericht sah einen direkten Kausalzusammenhang zwischen den Wahlvorbereitungen Mitte 2021 und der Nichtbeschäftigung ab August desselben Jahres.
Wie kommen 100 000 Euro zusammen?
Der größte Posten ist der Verdienstausfall seit August 2021. Weil Kellner in der Gastronomie typischerweise einen erheblichen Teil ihres Einkommens über Trinkgelder erwirtschaften, erkannte das LAG erstmals entgangenes Trinkgeld als ersatzfähigen Gewinn gemäß § 252 BGB an – pauschaliert mit 100 Euro pro Schicht.
Hinzu kamen Naturallohnkomponenten wie verbilligte Speisen und Getränke sowie der Ersatz pauschaler Abzüge für zerbrochene Gläser (»Gläsergeld«) und für das Waschen der Arbeitskleidung. Zusammen mit Überstunden-, Mindestlohn- und Annahmeverzugsansprüchen wuchs der Betrag auf sechsstellige Höhe.
Arbeitsrechtliches Neuland: Trinkgeld als Schaden
Ob Trinkgelder überhaupt zum »Verdienstausfall« zählen, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Die Münchner Entscheidung verschafft Beschäftigten in serviceorientierten Branchen ein starkes neues Argument. Fachanwalt Michael Fuhlrott spricht von einer Rechtsprechung, die »in Teilen arbeitsrechtliches Neuland« betrete.
Durchgriffshaftung: Wenn der Geschäftsführer persönlich haftet
Weil das Gericht eine vorsätzliche Verletzung von Schutzgesetzen annahm, durchbrach es die ansonsten scharfe Haftungsbegrenzung der GmbH. Der Geschäftsführer wurde gesamtschuldnerisch zur Zahlung verurteilt.
Das Signal ist deutlich: Persönliches Fehlverhalten im Umgang mit Arbeitnehmerrechten kann teuer werden, selbst wenn eine Kapitalgesellschaft dazwischengeschaltet ist.
Ein schriftliches »Es tut mir leid« – Entschuldigung als Naturalrestitution
Besonders spektakulär ist der Tenor, der Arbeitgeber müsse sich schriftlich entschuldigen. Das LAG stützt sich dabei auf jüngere EuGH-Rechtsprechung, nach der immaterielle Ansprüche nicht allein in Geld abzugelten sind. Für Arbeitsrechtler Fuhlrott ist die gerichtliche Verpflichtung zur Entschuldigung »völlig neu« – ein Indiz, wie sehr Diskriminierungsschutz und Persönlichkeitsrechte an Bedeutung gewinnen.
Urlaubsrecht: Sechs Monate Freizeit auf Arbeitgeberkosten
Weil der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit zur Urlaubsgewährung missachtet hatte, konnten Ansprüche aus mehreren Jahren nicht verfallen. Der Student erhält nun 29 zusammenhängende Wochen bezahlten Urlaub. Das Urteil zeigt, welche Risiken Unternehmen eingehen, wenn sie die mittlerweile strengen EU-Vorgaben zum Urlaubsverfall ignorieren.
Lehren für die Praxis
Für Arbeitgeber lässt sich das Urteil auf eine einfache Formel bringen: Wer Betriebsratsarbeit behindert, Kündigungsgründe konstruiert und arbeitsrechtliche Grundpflichten vernachlässigt, riskiert extreme finanzielle Einbußen – und eine öffentliche Blamage.
Schon kleine Minijob-Verhältnisse können bei Verstößen gegen Annahmeverzug, AGG, BetrVG oder Urlaubsrecht zu Schadenssummen im sechsstelligen Bereich anwachsen. Unternehmen sollten Dienst- und Urlaubspläne sauber dokumentieren, Ausgleichs- und Ausschlussklauseln wasserdicht formulieren und sich vor vorschnellen Versetzungen oder Kündigungen rechtlich beraten lassen.
Ausblick
Das LAG München hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen. Ob eine Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg haben wird, ist offen. Bis dahin steht das Urteil – und mit ihm ein deutliches Zeichen zugunsten aktiver Beschäftigtenrechte. Sollte die Entscheidung Bestand haben, dürfte sie weit über die Grenzen Münchens hinaus Wirkung entfalten: als mahnendes Beispiel, aber auch als strategische Blaupause für engagierte Arbeitnehmervertreter.